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Du bist nicht glücklich, wenn du gewalttätig bist

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Vom Saulus zum Paulus: Dieter Gurkasch hat diese Wandlung hinter sich. Als Raubmörder zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, fand er im Knast von Santa Fu zu Yoga und zurück in ein Leben in Freiheit. Zurzeit tourt er mit Workshops und seinem Buch „Leben reloaded“ durch den deutschsprachigen Raum. Bei einem Besuch in Köln sprachen wir mit ihm über Hoffnung im tiefsten Keller, nie versiegende Energien und den Durst nach Leben. Von Sebastian Züger/Foto: Dieter Gurkasch

Seconds: Du bekommst derzeit wahrscheinlich täglich Anfragen von Filmemachern, ob sie deine Geschichte verfilmen dürfen.
Dieter Gurkasch: Es gibt da etliches. Eine Regisseurin ist gerade dran. Aber vieles zerfällt auch wieder. Die Frage ist immer, wer mutig genug ist, dafür Geld auszugeben – weil das ja durchaus eine polarisierende Geschichte ist.

Was deine Person so filmreif macht, ist die Tatsache, dass du das abgrundtief Böse und das vollkommen Gute in einer Person vereinst. Das steckt zwar im Grunde in allen Menschen drin, aber du bist die leibhaftige Personifizierung davon.
Im Anschluss an Workshops kommen häufig Leute zu mir und sagen: „Irgendwie ist deine Geschichte genau wie meine Geschichte. Das war bei mir nicht alles so krass, aber eigentlich sind die Positionen genau die gleichen.“

Es gibt allerdings einen ganz wesentlichen Unterschied zu den meisten anderen, die sich in dir wiederzufinden glauben. Normalerweise läuft so eine Sinnsuche in sehr mediokren Grenzen ab. Du hingegen …
Ich war verzweifelt genug, über alle Grenzen hinwegzugehen.

Verzweiflung mag ein Auslöser gewesen sein. Aber da muss doch mehr gewesen sein.
Zum Teil liegt das natürlich an meinem Charakter. Ein Freund von mir ist Experte in Astrologie. Der sagt: „Im Grunde ist es verwunderlich, dass nicht das Mobiliar Feuer fängt, wenn du den Raum betrittst.“ Meine Planetenkonstellation ist anscheinend voll von einander widerstrebenden Energien. Das will natürlich gelebt werden und führt bisweilen zu sehr starken Emotionen.

Ist Yoga also ein Werkzeug, mit dessen Hilfe du diese widerstrebenden Energien in etwas Positives verwandeln kannst?
Yoga ist die älteste Wissenschaft und Technik, die es auf dieser Welt gibt, um psychische Energien zu kanalisieren und zu befrieden. In unserer sehr disziplinierten Gesellschaft kann Yoga ein Weg sein, sich zu öffnen und Verkrampfungen zu lösen. Aber manchmal ist Yoga auch zu zivilisiert. Ich tüftle gerade an einem Workshop, um Leute wieder in ihre Kraft zurückzuholen anstatt sie in ein weiteres Korsett zu stecken.

Da gibt es im Yoga also ein Defizit?
Yoga entstammt der vedischen Zivilisation, einer der ältesten der Welt. Die ist zwar sehr gottverbunden und spirituell, aber sie hat letztlich auch ein Konstrukt hervorgebracht wie Indien. Und Indien ist ganz und gar nicht das Land, in dem ich leben möchte.

Was kann klassisches Yoga denn heutzutage bewirken?
Sobald du Yoga machst, veränderst du den Raum. In meiner Zelle, in der ich zehn Jahre lang Yoga gemacht habe, haben alle Leute an der Tür automatisch die Schuhe ausgezogen. Alle haben leise gesprochen. Einmal flog so eine Sondereinsatzgruppe der Polizei ein, um meine Zelle zu durchsuchen, die meinten: „Oh, lass doch mal die Musik laufen, wenn du gehst.“ Das war so relaxed und so still bei mir – und das macht Yoga mit Räumen. Yoga besänftigt. Und dafür ist es da. Aber es kann halt auch zu viel der Besänftigung werden.

Dieter-Gurkasch

Was passiert mit mir, wenn ich Yoga ausübe?
Die einzelnen Haltungen erzeugen bestimmte Wirkungen in deinem Energiekörper. Der physische Körper ist dabei nur Mittel zum Zweck. Deine Schakras, also die Energiezentren in deinem Körper, holen mehr Energie aus dem Universum. Die Wirkung ist also energetisch und nicht physisch. Alles, was du mit Yoga erreichen kannst, kannst du im Grunde auch mit Meditation erreichen. Das ist auch der ursprüngliche Yoga-Weg: Meditation. Alle Yoga-Übungen sind darauf ausgelegt, den Körper soweit zu besänftigen, dass du es schaffst, lange Zeit still zu sitzen, ohne dass dein Körper dich nervt. Und ihn soweit zu klären, dass er imstande ist, die aufsteigenden Energien zu bewältigen, ohne dass er daran Schaden nimmt.

Für dich war Yoga ein Ausweg aus einer verzweifelten Situation. Jetzt, in Freiheit, stößt du offenbar an die Grenzen dieser Methode.
Naja, erstmal tun sich auch für mich immer wieder neue Horizonte auf. Du bist ja nie am Ende, solange du auf dieser Welt bist. Die Frage ist: Gestehst du dir das ein, dass du in einer ständigen Entwicklung bist? Oder sagst du: „Ich will, dass alles so bleibt, wie es gerade ist“ und ziehst immer wieder neue Mauern um dich hoch.

Warum ticken die Menschen so?
Das ist ein Grundbedürfnis. Wir leben in einer dualen Welt. Du brauchst Reaktionsmuster, um adäquat auf die Umwelt reagieren zu können. Das ist auch völlig in Ordnung so. Ich glaube nicht, dass wir in dieser Welt in vollständiger Jetztgewahrsamkeit leben können, also immer offen für den Moment sein können. Man muss manchmal auch einfach funktionieren. Nur ist es verführerisch, diese Reaktionsmuster als Gesetzmäßigkeiten zu betrachten.

Jede Abweichung von solchen funktionierenden Reaktionsmustern ist ein Eingriff: Wenn ein Mann sich mit einer anderen Frau als seiner eigenen trifft und sich dabei neu verliebt – dann kommen ja sofort die Muster aus Gesellschaft und Erziehung hoch und verlangen eheliche Treue.
Und dabei verlieben wir uns andauernd, das ist ja ein ständiger Prozess. Sich dem wieder zu öffnen, das ist eigentlich das Wichtigste. Denn nur dann kannst du wirklich auf deine Mitmenschen eingehen. Die Liebe ist das Bindeglied zwischen uns allen, das, was uns trägt.

Klingt alles sehr christlich, sehr nach Jesus.
Jesus ist mein Guru.

Da gibt es doch diesen schönen Satz: „Seht doch die Vögel auf dem Feld: Sie säen nicht, sie ernten nicht, und Gott der Vater ernährt sie doch.“
Das ist einer der wichtigsten Sätze, um den Menschen klar zu machen, dass sich Sorgen machen die absolut sinnloseste Beschäftigung ist, die es überhaupt gibt.

Das stimmt. Aber gleichzeitig auch kaum zu kontrollieren. Oder sind Sorgen für dich jetzt mit den Mitteln, die du dir erarbeitet hast, beherrschbar?
Nein. Ich habe immer wieder sehr gute Phasen im Leben, in denen mir einfach alles egal ist. In denen ich so gut gelaunt bin, dass ich mir keine Gedanken um Geld mache oder ob mein Auto noch 10.000 Kilometer durchhält und so weiter. Dennoch taucht Sorge immer wieder auf. Sie ist das, was uns an diese Welt bindet. Und solange wir auf dieser Welt sind, wird sie immer wieder aufflammen. Wichtig ist dann, sich genau diesen Satz immer wieder klar zu machen und zu begreifen, dass das Leben es gut mit uns meint. Dass Gott, das Leben an sich, das Universum – wie auch immer du diese Kraft nennen möchtest – will, dass wir glücklich, frei und zufrieden leben. Und dass es an uns ist, die Ereignisse, die wir als Schicksalsschläge oder als Krisen betrachten, als Chancen anzunehmen, unserem Leben eine neue Richtung zu geben.

Manche Menschen nutzen Persönlichkeiten wie Jesus allerdings dafür, sich hinter ihnen zu verstecken und jede Verantwortung dort abzuladen.
Das ist das Dilemma der Religionen: Sie werden als Ausrede benutzt. „Ich habe mich jetzt erklärt, ich folge der katholischen Kirche und kann ab jetzt machen, was ich will, solange ich mich an die Richtlinien halte. Ich muss mich nicht in jeder Sekunde neu für die Liebe entscheiden.“ Dabei geht es doch genau darum: Jede Situation neu zu betrachten und sich zu fragen: „Was sagt mein Herz dazu?“ Und nicht: Was sagt Moralgesetz 257 dazu?

Wie hätte der Typ, der du Anfang 20 warst, auf solche Aussagen reagiert?
Das hat mir sogar mal jemand mit 19, 20 gesagt, ein Gitarre spielender Christ an der Elbe, den ich an einem Lagerfeuer getroffen habe. In der Nachschau betrachte ist das als einen möglichen Wendepunkt. Da hat mir das Leben eine Chance hingehalten: Guck doch mal, so könnte man eventuell auch glücklich sein. Aber ich habe mich anders entschieden.

Wie hast du denn damals auf diesen Menschen reagiert?
Ich habe mit ihm über die Unvergänglichkeit von Energien diskutiert. Ich bin mein Leben lang Science-Fiction-Fan gewesen. Ich wusste schon damals, dass Energie nicht einfach verschwinden kann. Lebensenergie ist eine Form von Energie. Es ging also letztlich um die Unsterblichkeit der Seele.

Das ist offenbar ein Thema, das dich immer schon begleitet hat, nicht erst, seit du Yoga für dich entdeckt hast.
Ich bin ein Sinnsucher. Dieses Verzweifeln an der Suche nach dem Sinn, das kennt jeder. Und immer sind diese Momente der Verzweiflung auch Sprungschanzen in ein anderes Leben. Ich bin ein sehr dynamischer Mensch und trage meine Verzweiflung total nach außen. Deshalb hat das für meine Umwelt zum Teil sehr destruktive Folgen gehabt.

Am Ende deines Buches schreibst du, dass du dir sicher bist, nicht mehr rückfällig zu werden.
Rückfällig ohnehin nicht, ich bin auch nie im Wortsinne „straffällig“ geworden, also „in Straftaten gefallen“. Ich bin mit Anlauf ins Verderben gesprungen. Ich wollte es mit aller Kraft. Ich habe mich selbst gezwungen, destruktiv zu sein, weil ich glaubte, dass das der einzige Weg ist, Anerkennung zu bekommen. Aus demselben Grund besteht jetzt auch nicht die geringste Gefahr, dass ich wieder Straftaten begehe, weil ich nicht aktiv destruktiv werde.

Aber das Leben ist ja nicht stringent …
Ich habe solche Diskussionen geführt, als ich anfing, das Buch zu schreiben. Eine Autorin wollte das unbedingt mit mir schreiben. Ihr Freund sah das total kritisch, also hat er mich verhört, drei Stunden lang. Er hat Situationen konstruiert: „Stell dir vor, eines deiner Opfer hat Verwandtschaft in den USA und ein Anwalt kriegt es hin, dass du dorthin ausgeliefert wirst. Du weißt, dort wartet die Todesstrafe auf dich. Was machst du jetzt?“ Da kann ich nur sagen: Ich werde versuchen, soweit ich’s irgendwie kann, mich zurückzulehnen und abzuwarten, was das Leben mit mir vorhat. Ich werde nicht die Kanone ziehen und dem Leben dazwischenfunken. Natürlich würde ich versuchen, alle juristischen Mittel auszuschöpfen, aber ich würde nicht in den Untergrund gehen. Denn das bedeutet, wieder mit einer Kanone rumlaufen zu müssen. Das will ich nicht. Ich weiß, wie ich mich damals gefühlt habe, ich weiß, wie es ist, andauernd todessehnsüchtig zu sein. Du bist nicht glücklich, wenn du gewalttätig bist. Die wenigsten destruktiven Handlungen werden ausgeführt, um Freude daran zu haben, sondern nur, um Schmerz zu bewältigen.

Oder auch als Folgehandlungen. Man will ja Recht haben. Wenn du in den Untergrund gehst, dann musst du dir eben eine Knarre besorgen …
… und an der nächsten Polizeikontrolle die Köpfe wegschießen und so weiter. Das zu durchbrechen, bedeutet: Das, was du an Handlungen vollzogen hast, für nicht akzeptabel zu erklären. Das ist der schwerste Punkt. Dir selbst zu sagen: Ich habe Fehler gemacht und das will ich jetzt nicht fortsetzen.

Lernt man das nicht irgendwann?
Das kann man nicht lernen. Denn dann ist es nicht echt. Das Niederringen des Egos ist immer wieder ein schmerzhafter Prozess, ein richtiger Ringkampf. Du kannst dein Ego nicht wirklich überwinden. Darum geht es auch gar nicht. Es geht darum, sich auf diesen Kampf immer wieder einzulassen. Immer wieder zu fragen: Was ist wirkliches Entwickeln-Wollen und was ist Darstellen-Wollen? Wo will ich mich nur selbst feiern? Und wo gehe ich einen Weg, der mein Umfeld profitieren lässt? Denn dein Ego ist durchaus dafür da, dein Umfeld profitieren zu lassen – wenn du dein Ego in Zügel nimmst und seine Kraft konstruktiv einsetzt.

Du sagst, dass das immer wieder ein schmerzhafter Prozess sei. Gibt es nicht Phasen, in denen du keine Lust auf diesen Schmerz hast?
Insofern ist das vielleicht doch ein Lernprozess: dass du dich immer leichter auf diesen Kampf einlässt. Denn je häufiger du da durchgegangen bist, desto häufiger machst du die Erfahrung, dass die Lösung ein sehr angenehmes Gefühl nach sich zieht. Es ist unglaublich beglückend, das Ego in die Zügel gebracht zu haben. Ich merke das ja bei YuMiG, unserem Verein „Yoga und Meditation im Gefängnis“. Wir explodieren gerade, und letztlich kommt das aus mir. Ich hab 2008 für mich die Entscheidung getroffen: Ich werde Yoga und Meditation in Deutschland als ein Therapieangebot in die Gefängnisse bringen. Und das passiert jetzt wirklich. Ich unterstelle mein Ego einer positiven Bewegung. Und da spürst du eine unglaubliche Kraft, die sich nicht ständig an Widerständen reibt, sondern von allen Seiten befördert wird. Manchmal sagen Leute zu mir: „Was du alles geschafft hast!“ Aber ich habe gar nichts geschafft. Ich laufe nur ständig dem hinterher, was mir das Leben vor die Füße wirft.

Du scheinst für jedes Problem eine Lösung und auf jede Frage eine Antwort zu haben. Kann jemand wie du, der gewissermaßen schon alle Höhen und Tiefen durchgemacht hat, eigentlich noch scheitern?
So, wie das Leben gebastelt ist, wird garantiert nochmaliges und vielfaches Scheitern kommen. Jedes Mal, wenn wir glauben, wir sind angekommen, geht’s von vorne los. Das einzige, was das verhindern kann, ist in ständigem Fluss sein. Immer wieder in die Mitte des Flusses rausschwimmen und sich von der Strömung ergreifen lassen. Wohin dich die Strömung dann treibt, musst du der Strömung überlassen.

Wie sieht das konkret bei dir aus?
Ich versuche, so wenig wie möglich zu planen.

Aber das ist ja immer noch ganz schön viel, du warst zum Beispiel pünktlich hier.
Das ist das Aufrechterhalten von Strukturen, in denen ich funktionieren muss. Ich weiß zum Beispiel noch nicht, wovon ich im September leben werde. Im Oktober und November sieht’s schon wieder besser aus, aber im September …?

Da haben wir Freiberufler ja was gemeinsam.
Das wird sich alles ergeben. Ich weiß noch nicht, wohin YuMiG sich entwickeln wird. Wir haben vor anderthalb Jahren mal beschlossen, dass wir auf keinen Fall in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Justiz geraten wollen. Und jetzt haben wir gerade einen Dienstleistungsvertrag mit einer Justizvollzugsanstalt geschlossen und sind ganz stolz drauf. Es verändert sich also ständig was in einem. Man muss nicht glauben, dass man alles kontrollieren kann.

Wie muss das Leben denn sein, damit es dir total gut geht?
So wie es zurzeit ist.

Wie lange hält dieser Zustand schon an?
Eigentlich – mit kurzen Unterbrechungen – seit 2004. Im Knast ging es mir teilweise extrem schlecht, weil ich so mit dem Leben gehadert habe. Aber gerade diese Jahre, in denen ich so verzweifelt war, weil es aussah, als ob ich niemals wieder aus dem Knast kommen würde, haben ja die Grundlage für das gelegt, was ich heute mache. Ich bin immer wieder verzweifelt, habe aber auch immer wieder Hoffnung geschöpft.

Weil der Mensch so tickt oder weil du eine Methode dafür gefunden hast?
Yoga ist eine unglaubliche Kraftquelle, die hilft, solche Situationen zu überstehen. Ich habe in der Zeit gelitten, aber immer auch wieder Momente großen Glücks erlebt. Ich konnte auch Leuten im Knast helfen. Ich glaube, das ist etwas, was einem mit am meisten Auftrieb gibt: Wenn du anderen Menschen helfen kannst.

Was muss passieren, um dich noch einmal aus der Bahn zu werfen?
Eigentlich ganz einfach: schuldlos in eine kriminelle Affäre verstrickt zu werden, die es so aussehen lässt, als hätten die im Knast, die mir noch nie geglaubt haben, doch recht gehabt.

Aber im Unterschied zu damals hättest du doch jetzt Mittel, damit umzugehen.
Ich bin im Knast so tief im Keller gewesen, und ich weiß, dass es aus jedem Keller wieder einen Weg hinaus gibt. Ich habe erfahren, dass es das Leben gut mit uns meint. Und wenn ich das in einer bestimmten Situation nicht sehen kann, dann ist es an mir, Geduld aufzubringen und das abzuwarten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Homepage von Dieter Gurkasch

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