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Plädoyer für die Horizontale

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Ein Drittel unseres Lebens verbringen wie liegend.

Wir lümmeln auf dem Sofa, sonnen uns im Park, schauen in die Wolken, genießen die Schwerelosigkeit, die dabei in uns aufsteigt und geben uns unseren Gedanken hin, auf dass sie fliegen lernen mögen – ausgestreckt, geerdet, losgelöst von den lästigen Anspannungen des Alltags. Ganze Nächte widmen wir gewohnheitsmäßig der Horizontalen und trotzdem machen wir es uns nur selten bewusst: Ein Drittel unseres Lebens verbringen wir liegend. Aber wir geben es ungern zu. Denn in unserer heutigen Gesellschaft, in der nur vorwärts kommt, wer ständig in Bewegung bleibt und am besten drei Dinge gleichzeitig erledigt, bedeutet Liegen Trägheit, Passivität, Stillstand. Und das ist schlecht. Oder nicht? Eines ist jedenfalls sicher. Liegen hat auch viele positive Seiten. Sie geraten jedoch leicht in Vergessenheit, da wir sie als selbstverständlich hinnehmen. Dabei könnten wir, ohne uns sprichwörtlich ab und an mal auf’s Ohr zu legen, gar nicht existieren. Ein guter Grund, der vernachlässigten aller Positionen ein eigenes Plädoyer zu widmen…


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Die bewusstlose Pause

Schlafen gehört zu den ersten Assoziationen, die wir mit dem Liegen verbinden. Und das ist gar nicht so schlecht. Denn im Schlaf sind wir viel aktiver, als einige annehmen – nur unbewusst. Nachts regenerieren wir unseren Körper nach einem eigens von der Natur dafür entwickelten System. Sobald wir liegen, scheint ein Mechanismus in Gang gesetzt, der einer einprogrammierten Choreografie folgt. Die ausgestreckte Position gibt dem Körper das ersehnte Signal einen Gang runterzuschalten. Und das tut er dann auch. Der Blutdruck sinkt, die Muskeln an Hals und Nacken entspannen sich, die Atmung wird ruhiger. Unser Körper fühlt sich immer „schwerer“ an, gibt sich der Erdanziehung hin. Die Gedankenschleifen, die uns tagsüber heimsuchen, stoppen. Wir verlieren das Gefühl für Raum und Zeit, geben die Kontrolle über uns ab und dämmern schließlich der Nacht entgegen. Dass diese regelmäßige bewusstlose Pause für uns unbedingt notwendig ist, vergessen wir meist. Erst wenn wir aus irgendeinem Grund nicht schlafen können, merken wir, wie sehr uns dieses tägliche Ritual fehlt. Menschen, die schlecht schlafen, reagieren tagsüber leicht gereizt, manchmal sogar verwirrt und können den Alltag nur mit Mühe meistern.

Das miese Image

„Der Schlaf ist für den Menschen, was das Aufziehen für die Uhr“, wusste schon Arthur Schopenhauer. Ohne Schlaf also keine Energie. Keine Regeneration. Kein Leben. Denn ohne Schlaf sterben wir. Interessanterweise ist der Tod auch mit dafür verantwortlich, dass Liegen solch ein mieses Image besitzt. Denn ein Liegender lässt sich, rein äußerlich betrachtet, alleine seiner Körperhaltung wegen leicht mit einem Toten verwechseln. Aus diesem Grund ließen unsere Vorfahren, eine ausgestreckte waagerechte Position ihres Körpers gar nicht erst zu. Im Gegenteil: Sie ruhten nachts vor allem in der Hocke oder im Sitzen. Auf diese Weise konnten sie in der Gruppe platzsparend Ruhe und Wärme finden und bei Gefahr schneller reagieren. Im Mittelalter besaßen diejenigen, die sich Betten leisten konnten, meist sehr kurze, in denen sie unmöglich liegen konnten. Dahinter stecken ebenfalls vorwiegend praktische Gründe. Denn die Menschen hatten zu dieser Zeit häufig mit Atemwegserkrankungen zu kämpfen, da sie durch verschiedene Feuer zum Heizen und Kochen ständig Rauch ausgesetzt waren. Also schliefen sie im Sitzen. Denn im Liegen lässt es sich erwiesenermaßen schwerer atmen. Hinzu kam, dass oft Menschen, die nachts alle Glieder von sich streckten, morgens nicht mehr erwachten. Ihr Atem hatte versagt. Das schürte die Angst vor dem Tod im Liegen. Und wenn wir ehrlich sind, wer würde sich freiwillig in die Gefahr begeben, sein Leben durch das bloße Einnehmen einer sterbenden Position zu verkürzen?

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Die wirtschaftliche Seite

Heute sieht das natürlich ganz anders aus. Wer gerade immer noch darüber nachgrübelt, auf welche Weise das träge Liegen etwas anstoßen oder sich als wirtschaftlich rentabel erweisen kann, der braucht bloß an all die Hilfsmittel zu denken, die uns Unternehmen fürs Ausstrecken anpreisen. Ergonomische Matratzen, flexible Lattenroste, Betten mit verstellbaren Kopf- und Fußenden, Bockspring-, Wasser- oder Krankenhausbetten. Ein ganzer Industriezweig lebt davon uns zu versichern, dass wir mit seinen Produkten richtig liegen. Wer das nicht glaubt, der soll einmal versuchen eine Matratze zu kaufen. Das alleine erfordert dieser Tage schon einen Spezialisten. Denn wer kann von sich aus schon entscheiden, ob er besser auf Latex, Federkern oder auf der französischen Variante liegt. Oder welche Stärke er benötigt? Ganz zu schweigen von Schlafsofas oder den zahlreichen Kissen und Bettbezügen, die bei Besuchen in schwedischen Möbelhäusern immer auf magische Weise in unseren Einkaufskörben landen. Sie alle profitieren davon, dass wir nachts bis zu hundertmal unsere Position verändern. Uns mal seitwärts, rück- oder bäuchlings ausruhen. Dass wir in Rückenlage schnarchen, unseren Kopf aus Kreislaufgründen gerne höher betten als unseren Körper oder dass wir wegen Kreuzschmerzen auf flexible Matratzen setzen. Dass es auch spartanischer geht, beweisen unsere Vorfahren, die entweder ganz auf der Erde, auf Stroh oder auf einfachen Matten schliefen – nicht zu vergessen die Fakire, die sich ja bekanntlich nur auf einfache Nägel betten.

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Die Position als Inspiration

Und damit wären wir schon bei der nächsten Seite des Liegens: der künstlerisch-inspirierenden. Wie bereits anfangs erwähnt, verbinden viele Menschen mit dieser ausgestreckten, erdnahen Position den absoluten Müßiggang, die Faulheit und das Nichtstun par excellence. Vor unserem geistigen Auge sehen wir Künstler, Musiker, Literaten, die mit einem Glas Rotwein auf dem Canapé oder in ihrem Bett vor sich hindösen und auf die alles verändernde Eingebung warten. Sie nutzen die Nullposition zur Inspiration. Denn mit dem Rücken Richtung Boden ändert sich der eigene Blick(winkel) auf die Welt zwangsläufig. Eine andere Wahrnehmung tritt an seine Stelle, die – losgelöst vom starren nach vorne oder nach unten – die Augen in die Ferne schweifen lässt. Nämlich nach oben, in den Himmel, zu den Sternen. Eine Position, die bereits viele Künstler und Literaten zu inspirieren wusste. So schrieben etwa Marcel Proust und Mark Twain vorrangig im Bett. Und es gibt Menschen, die behaupten, dass Michelangelo sein wunderbares Werk in der Kuppel der sixtinischen Kapelle nur deshalb schaffen konnte, weil er seine Fresken im Bett liegend ersann. Das mag stimmen. Wie sonst soll ihm der Gedanke gekommen sein, die Erweckung Adams durch Gottes Zeigefinger im Himmel spielen zu lassen?
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Der Gegensatz als Chance

Ein weiterer Beweis dafür, dass Liegen keineswegs „böse“ ist, sondern uns sogar gut tut, lässt sich in einer weit verbreiteten Entspannungsdisziplin finden: der Massage. Im orientalischen Hamam, einem Dampfbad, gehört die Horizontale zur Prozedur des Loslassens unbedingt dazu. Dort erholt sich der Besucher, indem er sich auf einer angenehm warmen Steinplatte ausstreckt. Einen weiteren Anhaltspunkt dafür, dass Liegen nicht nur Immobilität bedeuten muss, ist in anderen sportlichen Disziplinen zu finden – etwa im Schwimmen. Und auch Pilates vollzieht sich zu großen Teilen liegend. Selbst Fallschirmspringer lassen sich zeitweise während ihres Sprungs wie Flughörnchen in der Horizontalen vom Wind tragen. Und dieser Sport ist ja wohl alles andere als passiv oder träge. An anderer Stelle drückt das harmlos wirkende Liegen sogar stillen Protest aus. Etwa, wenn Demonstranten in dieser Position Bahngleise besetzen, um Castortransporte zu stoppen. Oder wenn sich, wie erst kürzlich geschehen, mehrere Krankenpfleger zu einem Liege-Flashmob in einer innerstädtischen Fußgängerzone zusammenfinden, um auf den Mangel an Pflegekräften aufmerksam zu machen. Sie nutzen das träge Image des Liegens zu ihrem Vorteil, indem sie es mit einer Aktion verknüpfen. Mit Erfolg. Denn dieser Gegensatz schafft Aufmerksamkeit. Und die Aktion setzt am Ende vielleicht sogar etwas in Bewegung.

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Der neue Trend

Denken wir jetzt noch daran, dass wir einst zum Zweck des Liegens sogar einen gleichnamigen Stuhl erfunden haben, der sich vor allem in Vor- und Schrebergärten großer Beliebtheit erfreut, dämmert es uns langsam: Wir müssen uns für eine kleine Auszeit auf dem Sofa oder der Picknickdecke nicht schämen. Und vor allem: Wir können uns ruhig in die Kissen oder ins Gras fletzen und unseren Gedanken nachhängen, ohne irgend etwas anderes parallel machen zu müssen. Wir sind so frei. Eine einfache Sache, die sich aber wohl erst noch herumsprechen muss. Wie es scheint, ist es lediglich aus der Mode gekommen, ab und an mal ein kleines Nickerchen einzuschieben. Obwohl, dafür gibt es ja auch schon einen Trendnamen: den Power-Nap. Und in Miami soll sogar ein Restaurant eröffnet haben, in dem das Essen an Betten serviert wird. Ob sich das allerdings etablieren kann, bleibt abzuwarten. Aber wenn wir den übrigen Fakten glauben, ist Liegen heute so populär wie nie. Also am besten gleich selbst austesten und einen neuen Trend starten. Es ist ganz leicht: Einfach hinlegen, und den ungewohnten Blickwinkel genießen – anfangs nur für einige Minuten, so außer der Reihe, falls es der ein oder andere nicht mehr gewohnt ist. Und Handy aus. Die Gedanken sortieren, ein wenig träumen und später andere zum Mitmachen animieren. Müßiggang in Maßen sozusagen. Das kann doch nicht wirklich schlecht sein.

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