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Jürgen Becker erhält im Oktober den Georg-Büchner-Preis

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Jürgen Becker – Von der Durchdringung der Zeiten

Der Kölner Schriftsteller Jürgen Becker erhält im Oktober den Georg-Büchner-Preis

Von Dieter Kaltwasser

In jedem seiner Lyrik- und Prosabände hat Jürgen Becker die Möglichkeiten avantgardistischen Schreibens neu überdacht. Seine frühen experimentellen Texte sorgten bei ihrem Erscheinen für Aufsehen und wurden zu Signaltexten der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur.

Als er 1967 für eine Lesung aus seinem Buch „Ränder“ den letzten Literaturpreis der zerfallenden Gruppe 47 erhielt – Becker arbeitete noch als Lektor des Hamburger Rowohlt Verlags – ehrte die Gruppe damit vor allem einen jungen Vertreter des literarischen Experiments, wie es der Kölner Literaturwissenschaftler Walter Hinck formulierte.
Im Jahr 2012 erschien der bislang letzte Gedichtband „Scheunen im Gelände“ in der Edition Lyrik Kabinett mit Collagen von Rango Bohne und mit einem Nachwort des Freundes und Schriftstellerkollegen Michael Krüger. „Man sollte diese melancholischen Gedichte (mit den Bildern seiner Frau Rango Bohne) getrost wie ein berührendes Geschenk annehmen, das uns Jürgen Becker zu seinem 80. Geburtstag gemacht hat“, so Krüger.
Im Frühjahr 2014 hat die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung die längst überfällige Entscheidung getroffen, Jürgen Becker mit dem Georg-Büchner-Preis auszuzeichnen. Die späte Ehrung verdankt sich wohl auch dem Umstand, dass Becker dem lauten Getöse des Literaturbetriebs stets wohltuend fernstand.
In ihrer Begründung bezeichnet die Jury den Dichter als „eine maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie“. Er habe die Gattungsgrenzen von Lyrik und Prosa beharrlich neu vermessen und verändert. Seine Gedichte lebten aus einer sensiblen, sinnlichen, neugierigen Weltzugewandtheit und einer vollendeten, dabei ganz unaufdringlichen Sprachkunst. Insbesondere der Lyriker wird von der Akademie gewürdigt: „Bei aller bildlichen Brillanz und aller Lust am leuchtenden Detail der umgebenden Natur erkunden sie (die Gedichte) stets eine von den Spuren der Geschichte und ihren Katastrophen gezeichnete Landschaft. In Beckers Naturansichten durchdringen sich die Zeiten, Beobachtetes und Erinnertes, Persönliches und Historisches.“

Allein im Studio, vor sich ein Mikrofon
Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwieck/Harz und Waldbröl kam er 1950 nach Köln zurück und machte dort sein Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium wurde er freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. In einem Interview sagt er rückblickend über seine Arbeit im Studio: „Ja, das Radio war immer das Medium, was mir das nächste war. Ganz einfach auch diese Situation im Studio. Im Studio alleine sitzen, vor sich ein Mikrofon haben und etwas sprechen.“
Jürgen Becker lebt mit Rango Bohne in Köln und im Bergischen Land. Seine ersten Prosabände „Felder“ (1964) und „Ränder“ (1968) machten Becker zunächst als Autor experimenteller Texte bekannt, bevor er als Lyriker hervortrat. Zu seinem umfangreichen lyrischen Werk gehören unter anderem die Bände „Das Ende der Landschaftsmalerei“ (1974) und „In der verbleibenden Zeit“ (1979), die Erinnerungen an seine ostdeutsche Kindheitslandschaft „Foxtrott im Erfurter Stadion“ (1993), „Dorfrand mit Tankstelle“ (2007) und „Scheunen im Gelände“ (2012). Er schrieb weiterhin Hörspiele und die Prosabücher „Erzählen bis Ostende“ (1980), „Die Türe zum Meer“ (1983) und die Erzählung „Der fehlende Rest“ (1997). Becker wurde als Lyriker, Hörspiel- und Prosaautor vielfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den Peter-Huchel-Preis, den Uwe-Johnson-Preis, den Hermann-Lenz-Preis und im letzten Jahr den Günter-Eich-Preis.
Ein Gedichtband Jürgen Beckers mit Gedichten aus den Jahren 1993 bis 1997 trägt den Titel „Journal der Wiederholungen“. Durch die Überblendung des augenblicklich Wahrgenommenen mit den Bildern der Vergangenheit, ein für ihn spezifisches poetisches Mittel, und durch die immer konkretere Rekonstruktion des Vergangenen wird neues Terrain betreten. Von den frühen „Feldern“ (1964) über das „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ (1988) bis zum späten Romandebüt „Aus der Geschichte der Trennungen“ (1999) ergibt sich eine Annäherung an erlebte Zeitgeschichte, die der poetischen Imagination ihre Authentizität verdankt.

Erweiterung des Lektürehorizonts
Becker unterzieht die Möglichkeiten des Schreibens immer wieder neuen Prüfungen. Sein literarisches Verfahren, Bilder der Gleichzeitigkeit von Vergangenem und Gegenwärtigem zu erschaffen, erweitert und individualisiert den Lektürehorizont seiner Leser. Sucht man nach programmatischen Zeilen für dieses poetische Verfahren, so wird man in „Scheunen im Gelände“ fündig. Im Gedicht „Zurück im Norden“ heißt es:

  • „Ob es reicht, die fehlenden Teile zu finden,
    den verschwundenen Lebenslauf … die Ränder
    der Landschaft dehnen sich aus, wenn die Erinnerung
    mitmacht und den Rest der Geschichten
    aus ihrem Schlaf holt. Der Himmel
    hier hört nie auf. Du kannst dich weiterbewegen,
    weiter bis hin zu den Pappeln, von wo
    das Geraschel kommt und das Seufzen der Küste.“

In diesem Monat erscheint der Band „Fluxus und / als Literatur – Zum Werk Jürgen Beckers“. Herausgegeben wird dieses hoch ambitionierte Buch von Anne-Rose Meyer-Eisenhut und Burkhard Meyer-Sickendiek. Die Spuren der Fluxus-Bewegung sind zahlreich in den 1960er und 1970er Jahren. John Cage, George Brecht und Nam June Paik etwa prägen Auffassungen von Kunst, Künstlertum und Avantgarde bis in unsere Zeit hinein. Vor allem die intensive Zusammenarbeit des Schriftstellers Jürgen Becker und des Künstlers Wolf Vostell beeinflusste experimentelle Werke. In seinem 1971 veröffentlichten Fotobuch „Eine Zeit ohne Wörter“ verschmolz Becker seine literarische Arbeit mit dem visuellen Medium. Die Autoren des Bandes versuchen Beckers Stellung im Kontext der literarischen Avantgarde zu verorten. Und inwiefern lässt sich von einer Rückkehr des traditionellen Erzählens mit Blick auf Beckers Spätwerk sprechen? Fragen, die zentral sind für das Verständnis des künstlerischen Gesamtwerks von Jürgen Becker.

Empfohlene Literatur:
Jürgen Becker: Scheunen im Gelände. Mit Collagen von Rango Bohne. Edition Lyrik Kabinett, 108 S., 20 EUR
Anne-Rose Meyer-Eisenhut / Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.): Fluxus und / als Literatur –
Zum Werk Jürgen Beckers. Edition Text + Kritik, 300 S., 29 EUR.

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